Rundum sorglos versorgt

 

 

Ein paar Tage vor Redaktionsschluss, Rückkehr aus dem Urlaub: Die Waschmaschine ist gelaufen, der Rasen gemäht. Dann ist der Strom weg. Und zwar richtig. Die Schutzschalter haben ausgelöst. Es tut sich nichts. 15 Stunden später: Der Elektro-Notdienst hat es gerichtet, die Stromversorgung läuft wieder. Vorher gab es Kaffee und Mittagessen vom Gasgrill, dank der zusätzlichen Brennstelle für den Kartoffeltopf. Plan B hat funktioniert.

 

Vor ein paar Jahren las ich den Thriller „Blackout“ von Marc Elsberg: Großflächiger Stromausfall in Mitteleuropa, ein Szenario, vor dem Experten immer wieder warnen. In der Story wird der Mensch zum Tier, fressen und gefressen werden zur Realität: Man klaut sich den Sprit aus dem Tank, isst rohes Gammelfleisch, plündert Läden auf der Suche nach Wasserflaschen und Essbarem. Es tobt ein harter Kampf ums Überleben, während im Hintergrund die Experten versuchen, das Problem zu lösen. Thrillergemäß gibt es den Ausweg aus der Notsituation, aber Blessuren und Opferzahlen sind groß.

 

Der Kampf ums Klopapier ist nicht lange her. Manch einer zehrt noch von den Erfolgen der Hamsterkunst. Der Expertenrat: „So etwas kann immer wieder vorkommen. Legen Sie sich strategisch Vorräte an, v.a. Wasser.“ Habe ich natürlich nicht gemacht.

 

Die Endzeitsekte im Schwarzwald: Ein Atombunker im Bauernhof, angefüllt mit Vorräten, bereit für den Tag, an dem das Ufo kommt, um die Geretteten in Richtung Mars oder Nirvana zu evakuieren. Eine wahre Geschichte aus den 90ern, aber das Grundmuster stimmt bis heute: Egal, was die anderen denken, es kann nur darum gehen, dass ich, ich, ich und mein Leben… Das Motiv vom „heiligen Rest“ ist uralt, prägt die (Religions)Geschichte der Menschheit.

 

Doch Angstmache kann niemand gebrauchen. Das führt nicht weiter. Mit Angst allein kann man keiner Gefahr entschlossen gegenübertreten. Der andere Weg funktioniert auch nicht: Auf dem Vulkan zu tanzen und so zu tun, als wäre nichts oder es beträfe mich doch nicht, nur die nächsten Generationen, und ich könnte daher so weitermachen, als sei alles bestens in Ordnung.

 

Viele Jugendliche machen sich heute große Sorgen. Sie wissen: Die Kultur des „rundum sorglos“ ist fragil geworden. Felix (macht dieses Schuljahr sein Abi) sagte sinngemäß: „Ich schaue dennoch positiv auf meine Zukunft, denn ich habe mein Leben vor mir. Ich weiß, dass ich etwas bewirken kann. Ich will mir von der Klimakrise mein Leben nicht kaputtreden lassen.“ Sorglos klingt das nicht, aber die Haltung finde ich gut: Die eigenen Möglichkeiten nutzen, um mit der Gefahr zu leben, dabei Sinnvolles tun und Sinnloses lassen.

 

Wie groß ist das Risiko, dass die Versorgung und das „rundum Sorglose“ nicht mehr funktionieren, tatsächlich? Im Katastrophenfilm überlebt nur der Protagonist des Guten. Sollten meine Frau und ich das Grundstück der Schwiegermutter, das es eines nahen oder fernen Tages zu erben gibt, doch nicht verkaufen, weil man/frau sich dort bestens selbst versorgen kann? Viel Platz zum Ackern und Holz genug zum Heizen und Kochen… Plan B eben, aber wer kann das schon?

 

Letztlich muss jeder selbst entscheiden: Ignoriere ich die Risiken und hoffe, dass unsere Systeme stabil genug sind, um Krisen zu meistern? Gerate ich in Panik und folge irgendeiner irrationalen Scheinlogik? Es gibt mehr (Ab)Wege als Hamsterkäufe…

 

Ich plädiere für etwas anderes: Als Menschheit werden wir die grundlegenden Krisen unserer Zeit am besten überleben, wenn wir den individuellen Kampf mit dem Mehrwert einer Gemeinschaft konstruktiv verbinden. Der Individualismus unserer Zeit verhindert den Ausweg aus der Sackgasse ebenso wie das Diktat der Besserwisser oder eine Politik der Verbote.

 

Was wir brauchen, ist eine Haltung, in der das „Ich“ und das „Wir“ in ein Gleichgewicht kommen! Wobei in das „Wir“ die Natur, die belebte wie die unbelebte, eingeschlossen ist!

 

Für das Eigene sorgen und zugleich, damit in Balance, sich gegenseitig stärken und stützen, ideell und praktisch, das ist aus meiner Sicht ein guter Weg. Wir müssen lernen, mit der Sorge zu leben und zugleich miteinander Wege in und aus der Gefahr zu gehen. So können wir die eigene Freiheit erfahren und bewahren und zugleich Verantwortung wahrnehmen.

 

Diese Polarität von Freiheit und Verantwortung ist das Zentrum der evangelischen Ethik. Martin Luther hatte es seinerzeit in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ so formuliert: „Der Christenmensch ist ein freier Herr und niemandem untertan. Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. Mit unseren heutigen Worten gesagt: In der Gesellschaft ein solidarisches Leben führen und zugleich in voller Freiheit die eigenen Handlungsmöglichkeiten nutzen. Das ist Leben in der Gegenwart der Sorgen unserer Zeit. Das „evangelische Grundrezept“ passt.

 

Beispiele dafür? Die finden wir alle in unserem Leben genug. Suchen wir sie und nutzen wir sie als Ressourcen, um daran zu wachsen. Ich werde in der Nachbarschaft unseren Gasgrill anbieten, für alle Fälle. Mehrwert 1: in der Gemeinschaft  Verbundenheit erfahren. Mehrwert 2: Ressourcen sparen (man kann sich den Grill auch teilen). Ach ja: Wann kommt endlich das Carsharing auch nach Widdersdorf? Ich sollte da mal eine Eingabe machen…

 

Rolf Lenhartz